Der tragische Held von Paris

(Dieser Artikel wurde am Freitag, 20ster November 2009, verfasst)

Er hat eigentlich alles erreicht, was im Leben eines Fußballers von Bedeutung sein kann. Weltmeister 1998, Europameister 2000. Rekordtorschütze der Nationalmannschaft. In diesem Jahr auch – endlich – Champions-League-Sieger. Natürlich französischer und spanischer Meister, zweimal der Goldene Schuh der UEFA, reihenweise Torschützenkönig und achtmal Fussballer des Jahres (fünfmal Frankreich, dreimal England).

Einen Titel jedoch hat Thierry Henry noch nicht gewonnen – den Fair-Play-Preis. Doch er kann fest damit rechnen, ihn zu bekommen. Und das, weil seinetwegen, dem Rekordtorschützen, dem Weltmeister, Europameister und Vizeweltmeister, dem Kapitän, dem besten Stürmer, den Frankreich je hatte, die Equipe Tricolore aus der Weltmeisterschafts-Qualifikation ausschied.

Es war ein schlechtes Spiel der Franzosen – wie eigentlich jedes Spiel in der WM-Quali für Südafrika. Schon im Hinspiel war der 1:0-Sieg durch einen abgefälschten Schuss von Anelka mehr als schmeichelhaft. Hier, im Rückspiel, war der Gegner aus Irland drückend überlegen. Folgerichtig das 1:0, und nur mit Glück und durch das Geschick des französischen Torwarts Hugo Lloris, eindeutig bester Spieler des Tages, ging es überhaupt in die Verlängerung. Der gegnerische Coach, Giovanni Trappatoni, ein Altmeister des Cattenaccio, hatte seine Elf perfekt eingestellt. Die Iren spielten mit Mut und Können, nur vor dem Tor versagten ihnen mehrfach die Nerven. Chancen für Frankreich waren Mangelware. Bis zur 103ten Minute.

Nach einer konfusen Szene im Strafraum kam der Ball von Henry zu William Gallas – der aus gefühlten 30 Zentimetern keine Mühe hatte, den Ball per Kopf ins leere Tor zu bringen. 1:1, Frankreich war bei der Weltmeisterschaft. So dachten die französischen Fans, so dachten die französischen Spieler, so dachte vor allem das Schiedsrichtergespann um den Schweden Martin Hansson. Die irischen Spieler jedoch waren völlig anderer Meinung, vor allem Torwart Shay Given, der auch heute ein sicherer Rückhalt seiner Mannschaft war. Sie bestürmten den Schiedsrichter, der sich lange mit seinen Assistenten beriet – und dann auf den Mittelkreis zeigte. Und noch einer dachte anders – Thierry Henry.

Es ist einer der Momente, die im Leben nur einmal kommen – auch im Leben eines so hervorragenden Spielers wie Thierry Henry. Ein Moment, der darüber entscheidet: Ein einfacher Spieler, ein Söldner, der alles tut, um zu gewinnen – oder ein großer Spieler, ein Vorbild, ein integerer und würdiger Vertreter seines Landes. Als Martin Hansson den Arm in Richtung Stadionmitte ausstreckte, ging Henry, der über das Tor auch kaum gejubelt hatte, zum schwedischen Schiedsrichter und machte dasselbe Zeichen wie alle irischen Spieler – er deutete auf seine linke Hand. Mit dieser hatte er den Ball, der für ihn mit keinem im Fussball legal benutzbaren Körperteil erreichbar gewesen wäre und normalerweise zum Abstoß ins Aus hätte gehen müssen, in die Mitte geschaufelt. Und nicht einmal dezent, sondern zweimal und mit klarer Absicht. Der darauffolgende Pass ging an Gallas, der regelkonform den Kopf benutzte.

„Ich weiß nicht, was mich da geritten hat“, meinte ein sichtlich geknickter Henry später in den Katakomben des Stadions. „Ich hab den Ball gesehen, und unbewusst gehandelt. Ich hab ihn in die Mitte geschlagen – mit der Hand. Sofort danach hab ich es bereut.“ Er war nicht jubelnd abgedreht und hatte das Tor, das keines hätte sein dürfen, mit den Fans und Mannschaftskameraden gefeiert. Stattdessen hielt er sich abseits und beobachtete das Schiedsrichtergespann bei ihrer Beratung. Mit der festen Überzeugung, dass kommen würde, was kommen musste. „Ich habe erwartet, dass er auf Freistoß für Irland entscheidet und mir die gelbe Karte zeigt.“

Als der Schwede stattdessen den wahrscheinlich größten Fehler seiner Laufbahn begeht, rettet ihn Thierry Henry vor einer Blamage – und damit ganz Frankreich. „Als er das Tor gab, habe ich kurz gezögert. Dann bin ich zu ihm gelaufen und hab gesagt: Schiedsrichter, das war Hand.“ Sofort deuteten alle Iren auf ihn, brüllten den Schweden an, doch zuzuhören. „Wir konnten uns kaum verständigen, unsere Nasen berührten sich fast“, beschreibt der Büßer Henry die Situation mit dem Schiedsrichter. „Er fragte: Bist du sicher? Und ich antwortete: Ja, es war ein Handball von mir. Daraufhin meinte er, dass es ihm leid täte – und bedankte sich bei mir.“ Hansson zeigte Größe, hob seine Entscheidung auf, und zeigte Henry die fällige gelbe Karte.

Der Rest des Spiels war gegenüber dieser Situation zur Nebensache verkommen. Am Ende schied Frankreich trotz seines hervorragenden Torhüters Lloris im Elfmeterschießen aus. Irland feierte in die Pariser Nacht hinein, während die Equipe Tricolore nach dem blamablen Ausscheiden in der Gruppenphase der Europameisterschaft jetzt in Südafrika komplett fehlen wird. Dies kostete dem sowieso seit Jahren unbeliebten Raymond Domenech den Posten – für viele kam diese Entscheidung zwei Jahre zu spät.

„Natürlich bin ich sehr enttäuscht, dass wir nicht dabei sind“, meinte Henry einen Tag später in einem großen Interview, das in Frankreich live übertragen wurde. „Aber wir haben es spielerisch nicht geschafft. Irland hat uns fair besiegt – und wir haben fair verloren.“ Dass Frankreich vom Potential her zur Weltmeisterschaft gehört, ist unbestritten. Während mit Olympique Lyon und Girondins Bordeaux gleich zwei französische Mannschaften bereits für die nächste Runde der diesjährigen Championsleague qualifiziert sind, hat von den drei deutschen Mannschaften nur der amtierende Meister VfL Wolfsburg ernstzunehmende Chancen darauf – mit einem bosnischen Angriffsduo, welches in der WM-Qualifikation unglücklich gegen Portugals Torpfosten ausschied. Deutschlands Nationalspieler, ohne Niederlage direkt für die WM qualifiziert, stammen größtenteils von Bayern München (nur dritter ihrer Gruppe nach der Heimniederlage gegen Bordeaux), dem VfB Stuttgart (mit miserablem Start in die Bundesligasaison und drittem Platz in der Championsleague-Gruppe) oder von Vereinen, die überhaupt nicht im wichtigsten Vereinswettbewerb dabei sind (Bremen, Hamburg, Leverkusen).

„Ich glaube, dass Frankreich mit diesem Tor nicht glücklich gewesen wäre“, so Henry in seiner öffentlichen Stellungnahme am Donnerstag. Die Umfragen geben ihm recht. Einen Tag nach dem Spiel meinen über 80 Prozent der französischen Fans, dass die Equipe zurecht nicht qualifiziert ist. Damit hat Henry gleichzeitig für den Grund gesorgt, der den trägen französischen Verband zu den lang überfälligen Reformen bewegen könnte. Das Ende der Ära Domenech, der wohl schlechtesten seit dem doppelten Titelgewinn am Ende des letzten Jahrtausends, wird wohl kaum ein Franzose wirklich beweinen.

„Natürlich wird es Menschen geben, die sagen, hätte ich doch bloß meinen Mund gehalten“, so Henry schmunzelnd. „Aber es war die richtige Entscheidung.“ Über die Aussichten, eventuell den Fair-Play-Preis zu gewinnen, meint Henry: „Es wäre schön, aber es ist nicht so wichtig. Mir ist wichtiger, dass ich, wenn ich dereinst meinen Enkeln von meiner Karriere erzählen werde, sagen kann: Ich war nicht nur ein guter Sportler, ich war auch ein großer Spieler.“

(Am Mittwoch, 18. November 2009, ging Thierry Henry nicht zum Schiedsrichter. Dieser gab das irreguläre Tor. Frankreich schaffte damit die Qualifikation. Thierry Henry berief sich später wie auch die FIFA auf die Tatsachenentscheidung des Schiedsrichters.)

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